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Was vom Tage übrig blieb – Die Farbtagebücher von Claudia Desgranges
 
“Ergreifen erwirkt Besitz ⁄
Begreifen erwirkt Einsicht.”

Josef Albers, 1961
 
“Es gibt Menschen, die führen Tagebuch. Ich mache jeden Tag Bilder, und die sind mein Tagebuch.” In ihnen bewahrt der Maler Georg Baselitz seine Gegenwart für eine Zukunft. Schriftsteller und herausragende Persönlichkeiten nutzen Worte, um ihre Erinnerungen oder ihr Vermächtnis niederzulegen. Claudia Desgranges bannt das, was vom Tage übrig bleibt, in ihre “Farbtagebücher”. Fast beiläufig streicht sie am Ende ihres Arbeitstages die Farben aus den zuletzt genutzten Pinseln auf der Doppelseite eines Skizzenbuches aus. Seite für Seite hat sie seit 1993 weit mehr als 50 Bücher mit Farbe getränkt, sie mit Eitempera, Öl– und später Acrylfarbe überzogen, diese lasierend oder pastos aufgetragen, heftig kontrastierend oder im sanften Zusammenklang, pudrig zart oder lackig glänzend. Es sind die Memoiren der Malerin, die unberührt von realen Begegnungen, Eindrücken und Beobachtungen Eingang in die leinengebundenen Bücher finden.
In ihrer Malerei konzentriert sich Claudia Desgranges auf die Wirkung und das Zusammenspiel von Farbe, die sie in reduzierten Bewegungen — horizontal und vertikal, immer parallel zum Bildträger — auf die Fläche bringt. Auf der Leinwand oder auf dem in den vergangenen Jahren erprobten Aluminium überlagern sich Farben, sie durchdringen sich oder stehen isoliert nebeneinander. Die Breite des Pinsels bestimmt die Farbspur, die Bindung der Farbpigmente ihren Verlauf, ihre Dichte und den Grad der Deckung.
In den Farbtagebüchern auf deren Seiten die Malerin eine zunächst nur für sie selbst bestimmte, intime und von Zufall und Risikobereitschaft geprägte Form des Ausdrucks findet, klingt die Spur dieses Weges leise nach und wird zugleich ein neuer Weg beschritten. Dicht und beinahe pastos ist der Farbauftrag im ersten, 1993 begonnenen Buch. Aus der Überlagerung von Farbe entstehen Mischtöne, die vertikale Bewegung des Pinsels dominiert. Rot kontrastiert mit Ocker und Schwarz, mit Gelb, mit Violett oder mit Blau und Gelb. Später werden die Farben heller, dünnflüssiger, sie überlagern sich nun wie Schleier und das Weiß des Papiers tritt in den Dialog ein. (Buch 4, 1995⁄1996). Waren zunächst meist drei Farben im Spiel, konzentriert sich Claudia Desgranges 1998⁄1999 auf den Zusammenklang von nur zwei Farben, die Bewegungen werden schneller und gegenläufig, die Farbverläufe unruhiger und zarter. In der Dominanz der vertikalen Bewegung (Buch 6), über die sich die horizontal ausgemalten Farben wie ein zarter Schleier legen, bereiten sich die “zeitstreifen”–Bilder der folgenden Jahre vor.
Als sich im Jahre 1999 ihre Bildträger aus Aluminium dem Quadrat annähern, spiegelt sich dies in den zeitgleichen Tagebüchern 9 und 10, wobei sich allerdings die aufgeschlagenen Seiten zu einem lang gestreckten Rechteck summieren. Hastig muss der Pinsel über das Papier gefahren sein, um die Farbe dünn zu verstreichen, horizontale und vertikale Bewegung überlagern sich. Wenig später vollzieht sich ein Wechsel: Statt Eitempera kommt Acrylfarbe zum Einsatz, das Format der Bücher wird deutlich größer. (Buch 15, 2001) Parallel weicht die strikte Zweifarbigkeit einer zunehmenden Polychromie, die Farbspur zeugt von breiteren Pinseln, die horizontalen Bewegungen stürzen in die Diagonale (Buch 16, 2002⁄03) oder fehlen ganz.
Buch Nr. 17 weist eine Besonderheit auf: Jedes einzelne Blatt war bereits monochrom “eingestrichen”, als die Malerin die Farben des Tages in einer schnellen horizontalen Bewegung festhielt: So legt sich die gelbgrüne Farbspur des breiten Pinsels links über ein Asphaltgrau, rechts über ein zartes Rosa (siehe Abb.); sie verändert ihre Erscheinung, wird von dem Rosa aufgesogen, während sie sich vor dem dunklen Grau kontrastreich behauptet. Das Thema der Wechselwirkung einer Farbe in ihrer Relation zu anderen, so wie Josef Albers sie zeitlebens erforscht hat, dominiert dieses von März bis September 2003 angefüllte Buch.
2005 schließlich wählt die Malerin ein extremes Querformat (Buch 24), in dem sie vertikal gesetzte Farbblöcke nebeneinander setzt, verbunden nur durch einen leichten, ohne Druck geführten horizontalen Pinselstrich. Die hier gefundene Leichtigkeit steigert sich zu freien, spontanen Bewegungen, Farbe wird im fließenden Auf und Ab einer Welle auf das Papier (zeitgleich auch auf Leinwand oder Aluminium) gesetzt, vermischt sich und vereint sich zu einem steten Fluss (Buch 21, 2006⁄07). Reduktion und Konzentration prägen die zuletzt entstandenen Bücher, in denen einmal nur die Ecken mit sparsam gesetzten, einander kreuzenden Farbstreifen markiert sind (Buch 23, 2007⁄08), ein anderes mal balkenförmige Farbspuren mit großer Leichtigkeit übereinander liegen, wobei auch die dünneren, zum Mischen der Farben genutzten Pinsel zum Einsatz kommen (Buch 25, 2008⁄09).
Anders als bei einem Bild, das den Blick des Betrachters ganz auf sich zu ziehen vermag, sind beim Betrachten des Buches immer auch die vorhergehenden und die folgenden Seiten im Bewusstsein. Die Blattränder liegen offen und fesseln dank ihrer Farbigkeit die Aufmerksamkeit, Farbe schlägt durch das Papier oder quillt durch den Falz, so dass die Seiten trotz ihrer Eigenständigkeit immer auch als Teil eines Ganzen im Bewusstsein sind. Diese Erfahrungen mit den Büchern münden in das Malen auf den ziehharmonikaartig gefalteten Streifen eines Leporellos: Mehrere der nur durch eine Falz getrennten Seiten lassen sich in einem Blick erfassen, das Leporello klappt auf und kippt buchstäblich in den Raum, was immer neue Ansichten erlaubt.
Die Farbtagebücher speichern die Erinnerung an die Arbeit mit den Bildern. Die von einem fast mechanischen Handeln und dem Zufall bestimmten Phänomene und Reaktionen zwischen den Farben und der Farbmaterie wiederum werden zu einem vibrierenden Farbspeicher voller unerwarteter Kontraste und Klänge, die staunen machen und einen in ihren Sog ziehen: Farbmemoiren, die die Malerin in zukünftigen Bildern “begreifend” fruchtbar zu machen vermag.
 
Maria Müller
Josef Albers: Poems and Drawings, New York 1961, o.p.
Georg Baselitz: “Ich will es noch einmal schaffen”, in: Art. Das Kunstmagazin 3⁄2006, S. 36–43.